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„Ein Pferd, das man überzeugt hat, tut alles für den Reiter“

4. September 2022

Riesenbeck International erlebte an diesem Wochenende ein ganz besonderes internationales Dressurturnier. Nicht, weil sich das Wetter so wunderbar sommerlich und die Anlage in perfektem Zustand zeigte, sondern weil sich ein ganz besonderer Aggregatzustand der Betätigung von Sport zwischen Mensch und Tier am Pferdesportzentrum offenbarte. Beim erstmals ausgetragenen   internationalen 3*-Para-Dressurturnier erlebten die Besucher bei genauem Hinsehen, welche einmalige Partnerschaft 39 internationale Reiterinnen und Reiter und ihre 43 Pferde miteinander eingehen können – immer dann, wenn der eine merkt, dass der andere auf ihn angewiesen ist.

 

Die Behinderungsgrade bei der Para-Dressur werden unterteilt in die Klassen I, II und III für schwere und meist sichtbare Handicaps und IV und V für solche Beeinträchtigungen, die der Zuschauer während der Ritte kaum erkennen kann. Diese aktiven Reiter starten zuweilen auch in den höheren Prüfungen des Regelsports. So, wie zum Beispiel die US-Amerikanerin Kate Shoemaker, die mit ihrer achtjährigen Stute Quiana souverän alle Prüfungen in der Klasse Grade IV gewinnen konnte. Sie sagt, sie sei noch auf keiner Anlage geritten, die sich so sehr eigne wie das sonst hauptsächlich von den Springreitern besuchte Riesenbeck International. „Die festen Boxen, die räumlichen Möglichkeiten, die Parkgelegenheiten, die Professionalität des Veranstalters, das ist einmalig – das wird sich bis nach Amerika herumsprechen,“ ist die Tierärztin und Dressurpferde-Ausbilderin sicher.

 

In der Klasse I wird aufgrund der Schwere der Behinderung der Reiter ausschließlich im Schritt geritten. Hier präsentierte sich Laurentia Tan aus Singapur als unschlagbar in allen ihren drei Prüfungen. Mit jeweils zwei Pferden in den Prüfungen konnte sie auf zwei Pfleger, einen Trainer und eine begleitende Mutter vertrauen, die der jungen Frau zur Seite standen.

Welch‘ große Willenskraft und körperliche Anstrengung notwendig ist, um korrekte Lektionen zu reiten, wenn ein oder gar mehrere Körperteile ausfallen und damit die Lehre der zusammenspielenden verschiedenen Hilfegebungen nicht umgesetzt werden kann, zeigte Julia Porzelt (Grade II) mit ihrem zehnjährigen Fuchshengst Bruno. Die 27 Jahre alte Industriekauffrau vom bayrischen Chiemsee, deren offensichtlichste Charaktereigenschaft ein einnehmendes Lächeln ist, vertraut voller Selbstbewusstsein auf ihr reiterliches Können und Brunos Fähigkeit, mitzudenken. Kurioserweise sind Hengste und Stuten dazu wohl besser in der Lage, als die kastrierten Wallache, wie ein Blick auf die Starterlisten und die Bekräftigung verschiedener Reiter zeigte.

Julia Porzelt überzeugte die Richter durch einen schönen Sitz und korrektes Reiten trotz schwerer Behinderung, mit der sie geboren wurde. Im Alter von drei Jahren begann sie mit Hippotherapie, quasi einer Physiotherapie zu Pferde, mit neun Jahren schnupperte sie in den Regelreitsport, dem sie auch jetzt noch treu ist und mit ihrem zweiten Pferd Prüfungen in L-Dressuren reitet – und auch schon gewonnen hat. Sie trägt an beiden Beinen Prothesen, die sie im beim Reiten abnimmt, kann sich auch nicht auf fünf Finger an jeder Hand verlassen, sondern meistert ihre Aufgaben mit jeweils drei Fingern und einem bemerkenswerten Selbstverständnis. Da sie nicht über die Hilfestellungen verfügt, die Reiter ohne Handicap abrufen können und auch nicht viel Kraft hat, setzt Julia Porzelt ihren Sitz, die Stimme, zwei Gerten und die Zügel ein. Ein cleveres und sensibles Pferd weiß, was der Partner im Sattel will und spielt mit. Die junge Frau sagt: „ein Pferd, das man überzeugt hat, tut alles für den Reiter.“ Zum Beispiel dies: Auch wenn das Tier im Training von einem Bereiter in allen Gangarten Schritt, Trab und Galopp vorbereitet wurde, weiß es genau, dass es im Viereck – je nach Klasse des Reiters – nur im Schritt oder Schritt und Trab gehen darf. Darauf ist es sensibilisiert.

Die junge Frau, die noch keinen internationalen Sieg vorweisen konnte,  gewann am Wochenende alle drei Prüfungen (Individual, Team und Kür) und wurde von Tag eins an auf einer Welle durch das Turnier getragen. Sie kam aus dem Dauergrinsen nicht mehr heraus. Ihr Ziel ist es nun, einmal bei einem Championat wie einer EM, WM oder den Paralympics zu starten.

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Auch die moderne Technik hilft den Aktiven, die oft nicht gut zu Fuß sind: auf der ganzen Anlage waren elektrogetriebene Roller, Fahrräder oder Rollstühle zu sehen, zwischen denen Hunde und Kinder umherflitzten. Nur bei den eigens mitgebrachten Aufstiegshilfen vertrauten Reiter und Betreuer auf handelsübliche Klappleitern und feste Blöcke, um nicht im Sandboden zu versinken. Man ist eben für alle Eventualitäten vorbereitet.

Riesenbeck bereitete sich mit dem Turnier als Testevent vor auf die im kommenden September stattfindende Europameisterschaft der Paradressur, zeitgleich ausgetragen mit der Dressur-EM im Regelsport.

Gedanken, ob der besonderen Klientel der Parareiter auch besondere Aufmerksamkeit des in dieser Hinsicht unerfahrenen Veranstalters entgegengebracht werden müsse, begegnet der deutsche  Equipechef  Nico Hörmann, früher selbst erfolgreicher Westernreiter und mit starken Nerven ausgestattet, ganz pragmatisch: „Hier ist alle wunderbar organisiert, die neue Anlage schon behindertengerecht gebaut. Wenn der Veranstalter sich so viel überlegt, wie er es bisher schon gemacht hat, kann eigentlich nichts schiefgehen.“ Seine Schützlinge müssten nicht zu sehr mit Samthandschuhen angefasst werden. „Wenn es keine Treppe zur Pressekonferenz gibt, dann tragen wir halt den Rollstuhl hoch.“

Jan Holger Holtschmit, Chefrichter des Turniers und Vorstandsvorsitzender des  Deutschen Kuratoriums für Therapeutisches Reitens,  ist ebenfalls begeistert von der Weitläufigkeit und den Bedingungen für die Para-Dressurreiter und schaut voller Vorfreude auf die anstehenden Europameisterschaften: „Diese Anlage ist für uns perfekt. Ich habe Ludger Beerbaum schon vor zwei Jahren gesagt, dass diese Anlage perfekt wäre für die Ausrichtung unserer Turniere.“ Sein Wunsch hat sich nun schon einmal erfüllt.

 

Zum Sport:

Die holländische Mannschaft gewann die Teamwertung vor Deutschland und Frankreich.

Die Ergebnisse für die Individual-Prüfungen, die Team-Prüfungen und die Kür unter www.results.riesenbeck-international.com/2022/riesenbeck-international_16/